Elfi Kreis: Expedition ins Insektenreich (DE)

Dem Abenteuer des Unbekannten auf der Zeichenspur

Die Fähigkeit zu Staunen verbindet den Künstler und den Forscher. Der erste Konstrukteur, dem es gelang, einen Helikopter mit nur einem Rotor zu bauen, hieß Igor Sikorsky. In seiner Fabrik hing, schon von weitem lesbar, ein Schild: "Nach den anerkannten flugmechanischen Gesetzen kann die Hummel wegen ihrer Gestalt und ihres Gewichtes im Vergleich zur Flügelfläche nicht fliegen. Aber die Hummel weiß das nicht - und fliegt trotzdem". Der unerschöpfliche Erfindungsreichtum der Natur fasziniert nicht nur Ingenieure und Wissenschaftler.

Download PDF

Für Ursula Goeb ist es die Welt der Insekten, die ihrer künstlerischen Phantasie immer wieder aufs Neue Flügel verleiht. Speziell die dieser Spezies eigene Fähigkeit zur Verwandlung und Metamorphose dient ihr als Inspirationsquelle. Abbildungen der konkreten Welt sind für die Künstlerin dabei nicht mehr als ein erster Ausgangspunkt, eine Art Initialzündung. Ursula Goeb sieht sie als "Motor, der mich in Gang bringt".

Bei Pinselzeichnungen kommen die Erscheinungsformen ihres Insektariums nicht als biologisch exakt bestimmbare Exemplare der Fauna daher. Sondern als in den schwebenden, tänzerischen Zusammenklang meist schwarz-dunkler Basisformen übersetzte, biomorphe Bildkompositionen.

In verschiedensten Mischtechniken von delikater, lasierender Eitempera- wie kompakter Acrylmalerei; von dunkler Graphit- und Kohle-, heller Kreide- und Ölpastellzeichnung entwickelt die Künstlerin ihren Kosmos an Mikro- und Makrostrukturen: Bilder in vorwiegend sand- und erdigen Farbtönen, die Titel wie Insekt oder Insektenkampf, Kopf, Fühler, Insektenflügel, Tierwanderung und immer wieder Metamorphose tragen. Hier meint man gerade noch einen Fühler, das vielgliedrige Bein eines haarigen Krabbelgetiers zu erkennen. Dort deutet sich ein zarter Flügelpropeller oder eine abweisend kompakte Körperform an, wie von einem wehrhaften Chitinpanzer umhüllt. Andere Bilder erinnern gar entfernt an ein seziertes Insekt, an eine von böser Bubenhand in seine Einzelteile zerpflückte Fliege: Visuelle Codes einer Zeichensprache, die mit Mehrdeutigkeit und Offenheit jongliert und deren Faszination in Andeutungen gründet.

Auf orangefarbenen, mit Rechenkaros versehenem Karton entsteht eine Serie von Zeichnungen in Graphit und Ölkreide, deren konzentrischer Linienfluss insektenhafte Kreaturen luftig umzingelt und sie zugleich zu futuristisch anmutenden architekturähnlichen Raumgebilden verdichtet. Andernorts konzentrieren sich zarte Graphitstriche zu einem flirrenden Netzgespinst filigraner Zeichenlinien.

Ursula Goebs neue, atelierfrischen Arbeiten auf Papier haben einen hohen Abstraktionsgrad erreicht. Die Künstlerin weist dem spielerischen Aspekt des Zufalls, der Poesie des intuitiven Arbeitsprozesses eine zentrale Rolle zu. So entstehen Tuschzeichnungen auf Transparentpapieren, die sie faltet, wobei sich die Formen auf den beiden durchscheinenden Blatthälften anschließend paarweise überlagern.

Der Begriff Insekt kommt von dem lateinische Wort "insecta" und bedeutet "eingeschnitten". Die Insekten verdanken den Namen ihrer auffälligen Körpergliederung. Die Künstlerin nimmt die Bezeichnung beim Wort und verleiht ihr eine doppelt einschneidende Bedeutung. Bei collagierten Bildern, die Ursula Goeb aus mit dem Cutter geschnittenen oder gerissenen Stücken bereits fertiger Pinselzeichnungen oder Skizzen aufbaut, verbindet sie Organisches mit Tektonischem und erzielt zusätzlich reliefartige, haptische, unmittelbar (be)greifbare Wirkungen. Kaum eine Methode aber eignet sich trefflicher zur Annäherung an das Thema Metamorphose wie die Collagetechnik: Ist sie doch eine künstlerische Verhaltens- und Verfahrensweise, die das Möglichkeitsspektrum an Kombinationen erkundet und dabei bereits festgelegte Bedeutungen immer wieder erneut in Frage stellt. Die Hand denkt. Die künstlerische Expedition führt ins Unbekannte.

Berlin 2006

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.